Annas Traurigkeit – von Ditte Clemens

09. August 2022

Annas Traurigkeit – von Ditte Clemens

Als Annas Mama gestorben war, lebte sie allein in ihrem Haus, und bald zog die Traurigkeit bei ihr ein. Sie kam, ohne zu klingeln und zu fragen. Sie huschte durch das Schlüsselloch und begleitete Anna auf Schritt und Tritt. Groß und stark wollte sie werden.

Zuerst war Anna froh, dass sie nicht mehr so allein war. Doch dann tat ihr der Rücken weh, weil die Traurigkeit den ganzen Tag auf ihrer Schulter hockte. Sie ließ sich nicht mehr abschütteln.
“Mach dich nicht so schwer”, bat Anna.  Die Traurigkeit verzog sich schmollend für einen Augenblick in die Ecke. Aber je mehr sie mit Anna allein war, umso frecher wurde sie. Sie wich nicht mehr von Annas Schulter und mischte sich überall ein. Es gefiel ihr nicht, wenn sich Anna die Zähne putzte und die Haare kämmte. „Für wen machst du dich auf den weiten Weg ins Badezimmer, wo doch eh keiner kommt”, sagte die Traurigkeit.
Sie schimpfte, wenn Anna den Blumen frisches Wasser gab: “Wer gibt dir etwas?”

Wenn es klingelte, machte sich die Traurigkeit auf dem Sofa so breit, dass selbst eine Bohnenstange keinen Platz mehr gefunden hätte. Ging Anna trotzdem zur Tür, sprang die Traurigkeit ihr in den Weg und flüsterte ihr zu: “Drei Tage hast du dich nicht gewaschen. So kannst du keinen Menschen einlassen!” Ja, nun merkte Anna es selbst. Sie roch schon ein wenig, und so wollte sie niemandem öffnen. Obwohl es der Traurigkeit überhaupt nicht passte, badete Anna. Sie putzte sich die Zähne und. kämmte sich ihr Haar. Dann ging sie zur Tür. Aber dort war niemand mehr. Die Traurigkeit hopste vor Freude auf ihrem Rücken.

Als es eine Stunde später noch einmal klingelte, wendete die Traurigkeit alle Kraft auf, um Anna in den Sessel zu drücken. “Es klingelt nicht an der Tür, sondern in deinen Ohren”, redete die Traurigkeit auf sie ein. Doch noch wusste Anna, was sie hörte. Obwohl die Traurigkeit sich an ihre Beine hängte und jeden Schritt zu verhindern suchte, schaffte es Anna bis zur Tür. Sie öffnete und vor ihr stand ihre Nachbarin mit einem Blumenstrauß. “Herzlichen Glückwunsch”, sagte sie, und erst da fiel Anna ein, dass heute ihr Geburtstag war.
Die Nachbarin sprach mit ihr sofort über die Traurigkeit, als hätte sie auch schon Besuch von ihr gehabt. Und während die beiden Frauen über die Traurigkeit redeten, wurde diese immer wütender. Sie sprang wie ein Kobold von Annas Schulter auf die Schulter der Nachbarin und kreischte: “Ihr alten Tratschen, ich kann es nicht leiden, wenn man über mich spricht. Das macht mich total fertig.”

Doch die beiden Frauen hörten nicht darauf. Als die Nachbarin sich verabschiedete, fühlte sich Anna viel leichter. Die Traurigkeit hockte mit verbissenem Gesicht in einer Ecke: “Anna, das sag ich dir, wenn du so weiter machst, dann hau ich hier ab!”

Das Leben umarmen – von Gisela Baltes

Das Leben umarmen – von Gisela Baltes

Das Leben umarmen
wie einen Menschen,
den ich gern habe,
nicht an mich pressen,
nicht gierig umklammern.

Das Leben umarmen,
seine Nähe zulassen,
seinen Atem spüren,
bewusst leben, lebendig sein.

Das Leben umarmen,
im gemeinsamen Tanz mitschwingen,
führen und geführt werden,
gestalten und zulassen.

Das Leben umarmen,
es bejahen, so wie es mir begegnet,
jeden Tag, jede Stunde,
in guten und in schweren Zeiten.

Und wenn mir einmal
die Kraft fehlt zur Umarmung,
wenn ich müde und voll Sorgen bin?

Dann einfach loslassen
und darauf vertrauen,
dass das Leben selbst
mir liebevoll entgegenkommt
und mich umarmt, stärkt und leitet
in den Menschen,
die es mir über den Weg schickt.

Ein Schnurps grübelt – von Michael Ende

Ein Schnurps grübelt – von Michael Ende

Also, es war einmal eine Zeit,
da war ich noch gar nicht da. –
Da gab es schon Kinder und Häuser und Leut’
und auch Papa und Mama,
jeden für sich –
bloß ohne mich!

Ich kann’s mir nicht denken. Das war gar nicht so.
Wo war es denn, eh es mich gab?
Ich glaub’, ich war einfach anderswo,
nur, dass ich’s vergessen hab’,
weil die Erinnerung daran verschwimmt. –
Ja, so war’s bestimmt!

Und einmal, das sagte der Vater heut,
ist jeder Mensch nicht mehr hier.
Alles gibt’s noch: Kinder, Häuser und Leut’,
auch die Sachen und Kleider von mir.
Das bleibt dann für sich –
bloß ohne mich.

Aber ist man dann weg? Ist man einfach fort?
Nein, man geht nur woanders hin.
Ich glaube, ich bin dann halt wieder dort,
wo ich vorher gewesen bin.
Das fällt mir dann bestimmt wieder ein.
Ja, so wird es sein!

Meine Seele hat es eilig.

Meine Seele hat es eilig.

Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt, dass ich weniger Zeit habe, zu leben, als ich bisher gelebt habe.

Ich fühle mich wie dieses Kind, das eine Schachtel Bonbons gewonnen hat: die ersten isst sie mit Vergnügen, aber als es merkt, dass nur noch wenige übrig sind, begann es, sie wirklich zu genießen.
Ich habe keine Zeit für endlose Konferenzen, bei denen die Statuten, Regeln, Verfahren und internen Vorschriften besprochen werden, in dem Wissen, dass nichts erreicht wird.

Ich habe keine Zeit mehr, absurde Menschen zu ertragen, die ungeachtet ihres Alters nicht gewachsen sind.
Ich habe keine Zeit mehr, mit Mittelmäßigkeit zu kämpfen.
Ich will nicht in Besprechungen sein, in denen aufgeblasene Egos aufmarschieren.
Ich vertrage keine Manipulierer und Opportunisten.

Mich stören die Neider, die versuchen, Fähigere in Verruf zu bringen, um sich ihrer Positionen, Talente und Erfolge zu bemächtigen.

Meine Zeit ist zu kurz um Überschriften zu diskutieren. Ich will das Wesentliche, denn meine Seele ist in Eile. Ohne viele Süßigkeiten in der Packung.
Ich möchte mit Menschen leben, die sehr menschlich sind.

Menschen, die über ihre Fehler lachen können, die sich nichts auf ihre Erfolge einbilden.
Die sich nicht vorzeitig berufen fühlen und die nicht vor ihrer Verantwortung fliehen.
Die die menschliche Würde verteidigen und die nur an der Seite der Wahrheit und Rechtschaffenheit gehen möchten.
Es ist das, was das Leben lebenswert macht.

Ich möchte mich mit Menschen umgeben, die es verstehen, die Herzen anderer zu berühren.

Menschen, die durch die harten Schläge des Lebens lernten, durch sanfte Berührungen der Seele zu wachsen.
Ja, ich habe es eilig, ich habe es eilig, mit der Intensität zu leben, die nur die Reife geben kann.
Ich versuche, keine der Süßigkeiten, die mir noch bleiben, zu verschwenden.
Ich bin mir sicher, dass sie köstlicher sein werden, als die, die ich bereits gegessen habe.

Mein Ziel ist es, das Ende zufrieden zu erreichen, in Frieden mit mir, meinen Lieben und meinem Gewissen.
Wir haben zwei Leben und das zweite beginnt, wenn du erkennst, dass du nur eins hast.

Mario de Andrade (San Paolo 1893-1945) Dichter, Schriftsteller, Essayist und Musikwissenschaftler

Versammlung der Gefühle – von Gisela Rieger

Versammlung der Gefühle – von Gisela Rieger

Vor langer, langer Zeit wurden die Gefühle geschaffen, um in den Menschen zu wohnen. Ihre Bestimmung war es, den Menschen zu einem sinnvollen, glücklichen und erfüllten Leben zu verhelfen. Alle Gefühle waren erfreut, eine so schöne, wie verantwortungsvolle Aufgabe bekommen zu haben. Sie hatten ihre eigene Rangfolge und jeder wusste um seinen Platz und seine Bestimmung.

Die Liebe war seit jeher das größte und beliebteste Gefühl; sie hatte immer für jeden ein offenes Ohr. Dicht bei der Liebe stand die Dankbarkeit; diese stärkte die Zufriedenheit …
Lange Zeit lebten alle Gefühle harmonisch und ausgewogen miteinander.
Wurde die Sorge mal zu groß, kam umgehend die Zuversicht zur Hilfe.
Dem großen Kummer half stets der Trost, ebenso wurde die Schwere von der Leichtigkeit unterstützt. In diesem Sinne halfen sich alle Gefühle gegenseitig, wenn sie gebraucht wurden.

Eines Tages mussten die Gefühle jedoch feststellen, dass sie ihre Aufgaben kaum mehr bewältigen konnten. Manche wurden immer öfter von den Menschen unterdrückt und kamen seltener zum Vorschein. Andere hingegen bekamen viel mehr Macht als ihnen lieb war.
Die Menschen erstellten zwei Kategorien für ihre Emotionen und unterteilten diese in »positive« und »negative« Gefühle.
Das Materielle, Laute und Schnelle bekam einen immer größeren Stellenwert.
Weltweit berichteten die Medien vorwiegend über das »Schreckliche « und nur selten über das »Gute«!
Hass, Wut, Neid, Ärger, Eifersucht, Gier, Angst und Sorge … wurden stärker, so dass sie auf Hochtouren liefen, um ihre Anforderungen zu bewältigen und schließlich ständig überfordert waren.

Die bislang positiven Gefühle waren verzweifelt, sie wurden immer weniger wahrgenommen. Sätze wie: »Geiz ist geil«, »Liebe macht blind«, »Zeit ist Geld«,
zogen immer größere Kreise. Trotz allergrößter Anstrengungen wurden die Gefühle Liebe, Dankbarkeit, Glück, Freude, Leichtigkeit … immer mehr verdrängt.
Das Gleichgewicht unter den Gefühlen stimmte nicht mehr.

Die Angst und Verzweiflung wurde immer größer, die Traurigkeit weinte seit vielen Stunden, die Wut und Verurteilung machten den Hass für alles verantwortlich…
Als alle Gefühle beinahe restlos überfordert waren, sprachen die Hoffnung
und die Zuversicht ein Machtwort!
Es wurde erstmalig eine Versammlung aller Gefühle einberufen. Geraume Zeit beratschlagten sie, wie sie wieder in Einklang leben könnten und erstellten folgenden Plan:

  • Die Liebe soll wieder das stärkste und mächtigste Gefühl sein, denn alles was mit Liebe geschieht, ist immer gut!
  • Die Dankbarkeit soll auch ganz oben stehen, denn wenn man dankbar ist, zieht man immer mehr an, für das man dankbar sein darf.
  • Die Hoffnung bekam wieder ihren Platz, denn wenn man hoffen kann, gibt man nicht so schnell auf.
  • Das Glück, die Freude und die Leichtigkeit bekamen wieder ihren bedeutenden Stellenwert und sie umarmten sich innig.
  • Die Traurigkeit war müde und durfte sich zurückziehen, mit der Erkenntnis, dass auch sie wichtig ist, denn nur wer fähig ist, manchmal traurig zu sein, ist auch fähig zum Lieben und zum Glücklich sein.
  • Die Angst und die Sorge durften sich zufrieden in den Hintergrund stellen, dennoch wussten sie, dass sie schnell vor Ort sein könnten, wenn sie gebraucht wurden, um den Menschen vor Schlimmerem zu bewahren.
  • Die Verzweiflung begnügte sich mit ihrem kleinen Plätzchen am Rande und blickte glücklich zur Hoffnung.

Als alle Gefühle wieder im Einklang waren, kam der Hass hervorgekrochen. Mit einem zufriedenen Lächeln umarmte er die Liebe, sowie alle anderen Gefühle und sprach: »Ich habe viel zu lange auf dieser Welt regiert, schon lange möchte ich gehen. Nun, da die Harmonie wieder eingekehrt ist, kann ich endlich in Frieden ziehen. Lebt wohl!«

Die Weisheit sprach das Schlusswort: »Wenn der Mensch es zulässt seine Gefühle wahrzunehmen und jedem Gefühl seinen angemessenen Platz gibt, wird er erkennen, dass das Leben ein Geschenk ist – einzigartig, lebendig und wunderschön!«

Von Gisela Rieger; aus dem Buch „Inspirationen für`s Herz“

Zug des Lebens

27. Juli 2022

Zug des Lebens

Das Leben ist wie eine Zugfahrt mit all den Haltestellen, Umwegen und Unglücken. Wir steigen ein, treffen unsere Eltern und denken, dass sie immer mit uns reisen, aber an irgendeiner Haltestelle werden sie aussteigen und wir müssen unsere Reise ohne sie fortsetzen.

Doch es werden viele Passagiere in den Zug steigen, unsere Geschwister, Cousins, Freunde, sogar die Liebe unseres Lebens.

Viele werden aussteigen und eine große Leere hinterlassen. Bei anderen werden wir gar nicht merken, dass sie ausgestiegen sind. Es ist eine Reise voller Freuden, Leid, Begrüßungen und Abschied.

Der Erfolg besteht darin: Zu jedem eine gute Beziehung zu haben.

Das große Rätsel ist: Wir wissen nie an welcher Haltestelle wir aussteigen müssen. Deshalb müssen wir leben, lieben, verzeihen und immer das Beste geben! Denn wenn der Moment gekommen ist, wo wir aussteigen müssen und unser Platz leer ist, sollen nur schöne Gedanken an uns bleiben und für immer im Zug des Lebens weiter reisen.

Ich wünsche euch, dass eure Reise jeden Tag schöner wird, ihr immer Liebe, Gesundheit und Erfolg im Gepäck habt. Vielen Dank an euch Passagiere, im Zug meines Lebens !!!