Annas Traurigkeit – von Ditte Clemens
Als Annas Mama gestorben war, lebte sie allein in ihrem Haus, und bald zog die Traurigkeit bei ihr ein. Sie kam, ohne zu klingeln und zu fragen. Sie huschte durch das Schlüsselloch und begleitete Anna auf Schritt und Tritt. Groß und stark wollte sie werden.
Zuerst war Anna froh, dass sie nicht mehr so allein war. Doch dann tat ihr der Rücken weh, weil die Traurigkeit den ganzen Tag auf ihrer Schulter hockte. Sie ließ sich nicht mehr abschütteln.
“Mach dich nicht so schwer”, bat Anna. Die Traurigkeit verzog sich schmollend für einen Augenblick in die Ecke. Aber je mehr sie mit Anna allein war, umso frecher wurde sie. Sie wich nicht mehr von Annas Schulter und mischte sich überall ein. Es gefiel ihr nicht, wenn sich Anna die Zähne putzte und die Haare kämmte. „Für wen machst du dich auf den weiten Weg ins Badezimmer, wo doch eh keiner kommt”, sagte die Traurigkeit.
Sie schimpfte, wenn Anna den Blumen frisches Wasser gab: “Wer gibt dir etwas?”
Wenn es klingelte, machte sich die Traurigkeit auf dem Sofa so breit, dass selbst eine Bohnenstange keinen Platz mehr gefunden hätte. Ging Anna trotzdem zur Tür, sprang die Traurigkeit ihr in den Weg und flüsterte ihr zu: “Drei Tage hast du dich nicht gewaschen. So kannst du keinen Menschen einlassen!” Ja, nun merkte Anna es selbst. Sie roch schon ein wenig, und so wollte sie niemandem öffnen. Obwohl es der Traurigkeit überhaupt nicht passte, badete Anna. Sie putzte sich die Zähne und. kämmte sich ihr Haar. Dann ging sie zur Tür. Aber dort war niemand mehr. Die Traurigkeit hopste vor Freude auf ihrem Rücken.
Als es eine Stunde später noch einmal klingelte, wendete die Traurigkeit alle Kraft auf, um Anna in den Sessel zu drücken. “Es klingelt nicht an der Tür, sondern in deinen Ohren”, redete die Traurigkeit auf sie ein. Doch noch wusste Anna, was sie hörte. Obwohl die Traurigkeit sich an ihre Beine hängte und jeden Schritt zu verhindern suchte, schaffte es Anna bis zur Tür. Sie öffnete und vor ihr stand ihre Nachbarin mit einem Blumenstrauß. “Herzlichen Glückwunsch”, sagte sie, und erst da fiel Anna ein, dass heute ihr Geburtstag war.
Die Nachbarin sprach mit ihr sofort über die Traurigkeit, als hätte sie auch schon Besuch von ihr gehabt. Und während die beiden Frauen über die Traurigkeit redeten, wurde diese immer wütender. Sie sprang wie ein Kobold von Annas Schulter auf die Schulter der Nachbarin und kreischte: “Ihr alten Tratschen, ich kann es nicht leiden, wenn man über mich spricht. Das macht mich total fertig.”
Doch die beiden Frauen hörten nicht darauf. Als die Nachbarin sich verabschiedete, fühlte sich Anna viel leichter. Die Traurigkeit hockte mit verbissenem Gesicht in einer Ecke: “Anna, das sag ich dir, wenn du so weiter machst, dann hau ich hier ab!”